Projektankündigung: Ansätze zu einer praxologischen Typologie techno-medial organisierter kollektiver Gewalt.
doxing – Ansätze zu einer praxologischen Typologie.
Hinführung zur Fragestellung
In einem umfassenden Sinne beschreibt doxing den Akt der Veröffentlichung privater Information im Internet mit in der Regel feindlicher Intention oder gar expliziter Aufforderung, der Person zu schaden, ihr nachzustellen und zu drohen1. Douglas, von dem eine erste Typologie verschiedener Formen des doxing vorgelegt wurde, definiert doxing als „the intentional public release onto the internet of personal information about an individual by a third party, often with the intent to humilate, threaten, intimidate, or punish the identified individual“ 2 Disese Definition bleibt zu vage, wenn es darum geht, eine konzeptionelle Grundlage für eine Einordnung und Bewertung dieses oder jenes Falles auf doxing aufbauender techno-medialer Machttechniken vor dem Hintergrund etwa demokratietheoretischer, juristischer oder kriminologischer Erwägungen zu bieten. Die vorliegenden Versuche einer Typologie von Douglas (2016) und Anderson und Wood (2021) können nicht befriedigen, weil es ihnen schon aufgrund des rein klassifikatorischen Ansatzes nicht gelingen kann, den immanenten Sinn dieser oder jener Form des doxing zu erschließen. Den immanenten Sinn und mit ihm die immanente Effektiviät oder Wirksamkeit zu erschließen ist jedoch angezeigt, wenn es darum geht, eine konzeptionelle Grundlage für eine Bewertung dieser Machttechniken in den genannten Kontexten bereitzustellen. Der Ansatz von Anderson und Wood (2021) besteht in der schlichten Bildung einer Matrix verschiedener Typen des doxing durch Kombination der Werte zweier Grundvariablen: der Motive auf Seiten der Täter und der Formen des Verlusts auf Seiten der Betroffenen. Demgegenüber wollen wir vor dem Hintergrund der Diskurs-Praxis-Theorie Foucaults, der Psychoanalyse Jacques Lacans und der Sozialontologie Emmanuel Levinas Ansätze zu einer nicht nur klassifikatorischen, sondern praxologischen Typologie ausarbeiten.
Am Ende ihrer Studie weisen Anderson und Wood auf die Unbeholfenheit des Gesetzgebers gegenüber diesem Phänomen hin. Die Unbeholfenheit gründet nicht allein in mangelnden konzeptionellen Ressourcen, sondern ebenso sehr in der Eigenart dieser Technik, sich auf eine Weise zu vollziehen, dass es den Betroffenen oft nicht einmal möglich ist, darzulegen, dass sie Opfer dieser Technik geworden sind. Ein Umstand, der die Grenze eines jeden Versuchs anzeigt, auf diese Formen der Gewalt allein mit legislativen oder kriminalistischen Maßnahmen reagieren zu wollen. Das macht die Aufgabe einer präziseren konzeptionellen Fassung nicht unnütz. Es weist vielmehr auf ein entscheidendes Differenzierungskriterium hin: auf die Frage der Repräsentierbarkeit des Geschehens von Seiten der Betroffenen. Die (rechts-, demkoratie- und subjekttheoretischen) Wirksamkeiten der entzogenen Repräsentierbarkeit der Gewalt gilt es besser zu verstehen und in die Typologie einzuarbeiten. Wie wir im ersten an Foucault orientierten Teil der Arbeit zeigen werden, entspricht die Unfasslichkeit dieser Praxis in Grundzügen dem, was in Überwachen und Strafen im Konzept des Gegenrechts3 bestimmt worden ist, d.i. dem Eindringen der spezifischen diskursiven Modalität juristischer Geltung (der Gesetzeskraft diesseits des kodifizierten Rechts) in immer weitere Bereiche des Lebens; ein so weitreichendes Eindringen dieser spezifischen Modalität des Diskurses4, dass sie, und das ist die Situation der Betroffenen, zur unentrinnbaren Totalität selbst wird. Die Strategien, Techniken und Taktiken der auf doxing aufbauenden Gewalt gehen auf die gezielte Verwirklichung einer solchen Totalität, auf den Aufriss einer Zone der Indifferenz von Faktum und Norm im Zuge einer techno-medial realisierten Ökonomie der suspendierten ‚Rechte‘.
Ökonomie des Entzugs der ‚Rechte‘ als Maßgabe für eine Typologie des doxing
Die Differenzierung nach Motivation auf Seiten der Täter und Verlust auf Seiten der Betroffenen wie sie von Douglas (2016) und Anderson und Wood (2021) angeboten wird, ist sicherlich ein Beitrag zur Differenzierung verschiedener Formen des doxing. Sie trägt aber letztlich nicht dazu bei, eine Bewertungsgrundlage dieser oder jener besonderen Form des doxing bereitzustellen. Die Differenzierung der Ziele kann nicht das Kritierium der Bewertung sein, wenn gilt, das auch objektiv anerkennenswerte Zwecke die Mittel nicht zwangsläufig heiligen. Eine immanente Kritik der Mittel und nicht der Zwecke ist vielmehr die Grundorientierung dieses Versuchs. Einen richtigen Schritt in diese Richtung gehen die Verfasserinnen der beiden typologischen Studien, wenn sie der Klassifikation nach Motiven die zweite Basisvariable des Verlustes oder Schadens hinzufügen. Diese bleibt mit ihren Werten Anonymität, Verborgenheit, Reputation (und Erfolgschancen) allerdings so vage, dass es auch in Kombination der Werte der beiden Variabeln zu einer Matrix der Typen des Doxing nicht gelingt, Kriterien für die ethische, juristische und demokratietheoretische Einordnung dieser oder jener Form des doxing und der an sie anschließenden Praktiken oder Effekte bereitzustellen. Ein typologischer Ansatz, der dieser Möglichkeit zuarbeitet, kann durch eine Vertiefung der zweiten Basisvariable des „Verlustes“ entworfen werden, wenn wir diesen als Entzug der Rechte bestimmen und die Sozio-Techniken, die diesen realisieren, mit Foucault treffender noch als eine Ökonomie verstehen: eine Ökonomie des Entzugs der Rechte.
Eine erste Grundgliederung für die Ausarbeitung werden die drei von Hannah Arendt in ihrer Analyse der destruktiven Kraft totalitärer Gewalt eingeführten Momente der Person ansetzen: die juristische, die moralische und die individuelle Person5. Damit setzen wir einen normativen Bezugspunkt an, der nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern im Grundgesetz und jeder demokratischen Verfassung verankert. Die Klassifikation der spezifischen Formen des doxing hat dementsprechend danach zu fragen, durch welche Eigenheiten der eingesetzten Techniken, Taktiken, Verfahren sowie der unintendiert aber konsequent in Gang gesetzten Prozesse diese Momente angegriffen werden – mit welcher Folgerichtigkeit oder Konsequenz und in welcher Intensität. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, einen an der Eigentümlichkeit totalitärer Gewalt als Extrem orientierten praxistypologischen Baukasten für die Bewertung dieser oder jener Form des doxing bzw. der auf doxing aufbauenden cybertechnisch basierten Gewalt bereitzustellen. Um dem Missverständnis vorzubeugen: auch oberflächlich betrachtet nicht politisch motivierte Settings kollektiver techno-medial organisierter Gewalt können totalitär sein. Das zeigt sich zum Beispiel an einer feiernden, studentisch geprägten Spaßgesellschaft, die über 10 Jahre einem YouTuber in einer Weise nachstellt, dass dieser nach verlorenen Prozessen als Vertriebener von Ort zu Ort zieht, um dem Mob zu entkommen. Doch der feiernde Mob, das ist die Heimtücke techno-medial organisierter kollektiver Gewalt, ist wie der Igel vor dem fliehenden Hasen an allen Orten immer schon da.
Für das erste Moment des Entzugs der Rechte, d.i. die Frage, inwieweit diese oder jene Form des doxing die juristische Person angreift, ist offensichtlich, dass die Frage, welches Medium gebraucht oder besser konstituiert wird, um diskreditierende persönliche Informationen zu ‚veröffentlichen‘, von entscheidender Bedeutung. Für die beiden anderen Momente ebenfalls, doch bedarf es für diesen Einblick weiterer subjektheoretischer Aufarbeitungen, die ich im zweiten und dritten Teil mit psychoanalytischen und phänomenologisch informierten Ansätzen ausführen werde. Man sieht an diesem Beispiel jedenfalls, wie sich spezifisch technische und taktische Details dieses oder jenes Beispiels von doxing Schritt für Schritt mit den angesetzten Grundmomenten des Entzugs der Rechte kombinieren lassen. Die Frage der Öffentlichkeit überhaupt ist hier entscheidend, die nicht hinreichend durchdrungen zu haben, zu den demokratietheoretisch verheerendsten Fehlinterpretationen auf Seiten der Täter wie jener führt, die diese Praktiken zu beurteilen haben als Vertreter der legislativen, judikativen und exekutiven Gewalt sowie der Journalisten, Wissenschaftler und Bürger, denen ein solches Geschehen begegnet.
Eine der jüngsten Arbeiten zum Thema digitaler Gewalt versucht sich verschiedenen Formen IT basierter Machttechniken unter dem Titel „Das Gericht der öffentlichen Meinung“ anzunähern6. Diese Annäherung ist aus mehreren Gründen unzureichend, um die Eigentümlichkeit zumindest bestimmter Formen des doxing und begleitender Praktiken zu erfassen. Sie verfehlt nicht nur den Kern ihrer Destruktivität, sondern führt auf fast gefährliche Weise auf eine falsche Fährte (was nicht das differenzierte und lesenswerte Buch, sondern das Framing durch die Metapher betrifft). Gewiss wird im doxing mit den Mitteln ‚öffentlicher‘ Anklage, Beschuldigung, aber eben auch krimineller Exposition, Beschämung, Erniedrigung usw. gearbeitet. Im Unterschied zu einer demokratischen Öffentlichkeit ist das Medium, das im doxing bespielt bzw. produziert wird, den Betroffenen selbst zum Teil oder gar vollständig entzogen und entsprechend von jeder Korrektur und Regulierung, von jeder vermittelnden Dialektik von Rede und Gegenrede, Klage, Gegenklage, Berufung usw. befreit: Informationen, Anschuldigungen, Verleumdungen bis hin zur Veröffentlichung intimster Details, Rachepornos, gehackte Webcamitschnitte, diskreditierende Bilder, private Äußerungen, Chats, kleinste über Hacking und implementierte Überwachungssoftware gewonnene und dekontextuierte Schnipsel aus dem Leben der Betroffenen zusammen mit Informationen über Wohnort, Emailadresse, Arbeitsort usw. werden nicht in einem für alle gleichermaßen zugänglichen öffentlichen Forum geteilt (als Ort der Herausbilung einer ‚öffentlichen Meinung‘). Nicht Dialektik der Rede und Gegenrede, sondern unentwegte Reproduktion des Gleichen ist der Mechanismus der „Bildung“ der „Meinung“ in einem Setting, wo nur die Täter die Möglichkeit haben, das Medium zu bespielen und, in anonymer Selbstermächtigung, die Regeln festzulegen bzw., sofern es die Rechte der Betroffenen betrifft, schlicht außer Kraft zu setzen. Die erbeuteten, geleakten oder manipulativ produzierten Schnipsel werden ausgehend von diesen Foren zum Ganzen. Sie beginnen sich viral zu verbreiten und entsprechend unaufhörlich an immer weiter gestreuten Orten zu wiederholen. Ein derart von jedem Einspruch, Appell an demokratische, rechtliche, kommunikative Standards gelöstes Medium erzeugt eine einsinnige Wiederholung der diskreditierenden Schnipsel, die so beginnen zur maßgeblichen, zur einzig wirksamen Repräsentation zu werden: zum unsinnig geltenden Signifikanten wie wir mit Lacan, Zizek und Santner sagen werden – Begegnung mit dem Ding statt öffentlicher Streit. Wiederholung des Gleichen, in die die Betroffene im Extrem eingeschlossen wird wie in eine unentrinnbare, vom Gewesenen wie vom Kommenden abgetrennte Gegenwart: ein Wirklichkeit gewordener Alptraum. Die traumatisierende Kraft der unsinnigen Geltung werden wir mit Santner, Zizek, Levinas und Lacan eingehend herausarbeiten.
Schon aus dem genannten Grund allein führt der Begriff der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung in vielen Fällen in die Irre. Nicht jede geteilte Information ist öffentlich. Öffentlichkeit ist dort, wo prinzipiell jeder Zugang hat. Wäre das der Fall, dann wäre es den Betroffenen zumindest im Prinzip möglich, sich dagegen zu wehren, wie etwa gegen Verleumdung, Verletzung des Persönlichkeitsrechts, Einbruch in Daten7, Übernahme digitaler Systeme, die Überwachung durch allgemein zugänglich gewordene Spionagesoftware8 wie auch die darauf aufbauenden, zermürbenden Belästigungen, Manipulationen und performativen Übergriffe zu klagen. Doch gerade das ist nicht der Fall. Der Fall ist eine je nach Intensität und Konstellation fast absolute Hilflosigkeit.
Das Medium, das im Doxing konstituiert wird, ist zumeist keine Öffentlichkeit, sondern ein hinsichtlich des Zugangs begrenzter, manchmal nach Szenezugehörigkeit oder -status begrenzter medialer Raum (Diskreditierungsplattformen9 und Social Media Netzwerke10 sind die häufigsten Orte, an denen Kampagnen initiiert und von dort aus dann schnell ihre eigene oft unbedarfte, für die Betroffenen jedoch mitunter tödliche11 Dynamik entfalten). Dieser Punkt ist so essentiell, dass er den Gewaltcharakter dieser Praxis im Unterschied zu einer nicht selten auch mit manipulativen Methoden geführten, aber der Korrektur zumindest prinzipiell offenstehenden und hinsichtlich dessen, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, regulierten öffentlichen Debatte, Anklage usw. geradezu definiert. Das Medium gleicht aus der Sicht der Betroffenen eher einem ihnen selbst unzugänglichen Archiv, dessen Existenz den Betroffenen mitunter allein aufgrund der Effekte deutlich vor Augen tritt: die Allgegenwart des Blicks in Gestalt von unbekannten Menschen, die einen scheinbar kennen, das aufdringlich werdende Gemurmel und Gelächter, der plötzliche Rückzug von Freunden und Bekannten, Angst, Paranoia, Isolation, soziale und berufliche Misserfolge, Wahnzustände und Depression bis hin zu Selbstmord.
Doch nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit ist verfehlt, sondern auch der des Gerichts. Wenn wir die Soziotechnik doxing – und die darauf aufbauenden kollektiven Praktiken wie Nachstellungen, mehr oder weniger subtile Drohungen und Einschüchterungen in digitaler oder auch leiblich präsenter, performativ ausgearbeiteter Form usw. – im Raum der Trennungen verorten wollten, die die liberale Demokratie als grundlegende Momente ihrer Verfassung bestimmt, dann wäre diese Praxis weniger in Analogie zur Gewalt der Judikative zu fassen als vielmehr der Exekutive. Das Urteil ist hier immer schon gefallen, vor jeder angemessenen Prüfung der Sache. Eine sich jeder Regulierung entziehende Exekutivgewalt wäre der passendere Vergleich: eher Polizei oder Strafvollzug als Gericht. Doch auch dieser Vergleich hinkt, wenn auch deutlich weniger: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hat, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Unabhängig von der möglichen ‚moralischen‘ Schuld im Einzelfall geben dieser berühmte erste Satz aus Kafkas „Der Prozess“ und die sich an den Satz anschließende ausweglose Suche Ks nach einer Instanz der Anklage, die man ihrerseits zur Stellungnahme, zur Mitteilung der Gründe, Beweise und Legitimation auffordern könnte, einen eindringlichen Eindruck davon, was den von techno-medial basierten Formen anonymer kollektiver Gewalt betroffenen Menschen subjektiv widerfährt. Das, was ihnen widerfährt, appelliert an eine eingehende Analyse im Kontext elaborierter Subjekt- und Machttheorien. Nur diese geben die Mittel, nachvollziehbar zu machen, was es denn eigentlich ist, das ihnen geschieht. Für den außenstehenden Beobachter passiert mitunter nämlich nichts, außer vielleicht zu bemerken, dass die Betroffene sich merkwürdig verhält, während im Extrem dieser Techniken die gesamte Welt der Betroffenen in einen Strudel gerät, der einer ethisch-ontologischen Katastrophe gleicht.
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist also die Überzeugung, dass allein die begrifflichen Ressourcen der Subjekt- und Machttheorien des 20. Jahrhunderts zu sagen erlauben, was den von einer techno-medial konstituierten anonymen Gewalt Betroffenen widerfährt. Was ist Ziel oder Effekt dieser Prozeduren, welche subjektive Position wird hier gezielt oder auch unintendiert produziert, was ist das Begehren des Anderen?. Ziel oder Effekt – denn die Effektivität dieser Praxis baut zumindest auch auf der Unbedarftheit der lateral Beteiligten auf, die ohne zu denken, einfach teilen, liken, weiterleiten12. Weiterhin wird davon ausgegangen und eingehend herausgestellt, dass die Unfähigkeit mitzuteilen, einen Ort der Verhandlung zu finden, nicht nur ein essentielles Moment der Taktik der hier in Frage stehenden Soziotechniken bildet, sondern unmittelbar ins Zentrum ihrer destruktiven Macht verweist: den ins Werk gesetzten Ausfall der Sprache, die schrittweise Desintergration der (juridischen, moralischen und im Extrem individuellen) Person. Das ist zugleich die Produktion einer Ohnmacht, die nicht nur ein Mangel an Gegenkraft bedeutet, sondern den Zusammenbruch des Glaubens, dass es einen Ort des Sprechens, der gerechten Prüfung usw. des Falles überhaupt gibt. Das bedeutet, dass diese Techniken, aufgrund von Eigenheiten, die es näher herauszuarbeiten gilt, im Extrem auf einen Zusammenbruch der Sprache nicht im Sinne eines Mangels geeigneter Worte, sondern auf den Zusammenbruch der Sprache in ihrer – wie wir mit Levinas, Blanchot und Lacan sagen werden – das Subjekt einsetzenden und die Konsistenz der geteilten Wirklichkeit unterhaltenden ethisch-ontologischen Dimension. Nicht Ohnmacht, sondern Verlassenheit13 ist die Position, die im Extrem dieser Soziotechnik gezielt (oder auch nur effektiv) produziert wird. Wo das geschieht, haben wir es, im Rahmen unseres typologischen Ansatzes, mit einer Technik nicht nur der Zerstörung der juristischen, sondern auch der moralischen und individuellen Person zu tun – mit einer immanent totalitären Praxis.
Gang der Untersuchung und präzisiertes Erkenntnisinteresse
Ziel dieser Arbeit ist eine präzisere Einordnung einiger markanter Taktiken und Techniken It basierter sozio-technischer Gewalt. Das ist schon aus dem Grund wichtig, da nur so dem Missbrauch der dringend notwendigen Kritik an dieser in einer digitalisierten Lebenswelt so leicht realisierbaren Technik in solchen politischen Kreisen vorzubeugen ist, die sich derselben einerseits umfassend bedienen14 und andererseits auf zynische Weise die Kritik an dieser Technik auch dort noch gegen politische Gegner ins Feld führen möchten, wo es nicht um manipulative Erzeugung einer anonymen kollektiven Gewalt, sondern um berechtigte öffentliche und entsprechend der (im Zweifel der sachlichen und juristischen) Prüfung offen stehende Kritik an Machtmissbrauch und Diskriminierung geht. Möglichst klare Grenzziehungen zwischen differenten Techniken und Praktiken sind hier wünschenswert, wenn auch nicht ohne Anstrengung zu geben. Das Anliegen einer präziseren Fassung dieser Technik in ihrer typologischen Besonderheit beinhaltet einen tieferen Einblick in die subjektiven Mechanismen und Effekte, die diese manipulativen Soziotechniken hervorbingen. Das ist ein Erkenntnisziel für sich selbst, aber auch Grundlage der Ausarbeitung des Entwurfs des Ansatzes zu einer praxologischen Typologie. Denn erst der phänomenologisch und psychoanalytische informierte Einblick in die subjektiven Mechanismen, ethisch-ontologischen Abbauphänomene und phantasmatischen Produktivitäten, die mit dieser Technik ins Werk gesetzt werden, erlauben eine genauere Beurteilung der Frage, inwieweit ein besonderer Fall IT basierter kollektiver Gewalt auch die moralische und individuelle Person angreift.
Der erste Teil der Arbeit wird Foucaults Typologie moderner Straf-Wissens-Regime wiederholen. Wir beschränken uns dabei in diesem ersten Schritt auf Überwachen und Strafen. Dabei ist schon aus dem ersten Vorblick absehbar, dass der Rekurs auf Foucaults Typologie der zwei maßgeblichen modernen Strafregime keine einfache Einordnung des doxing erlaubt. Sie geben jedoch präszise Beschreibungen und Anhaltspunkte, das heißt einen hinreichend detaillierten konzeptionellen Kontext in ihrer Analyse von Machttechniken und -taktiken, der es erlaubt, eine weit präzisere Bestimmung der Eigenart dieser Technik zu leisten. Neben der foucaultschen Darstellung moderner Straf-Wissens-Regime versprechen wir uns von Agambens Darstellung der juridischen und politischen Hintergründe der Ausnahmestruktur die Möglichkeit einer weiteren praxis-typologischen Präzisierung.
Im zweiten Teil der Arbeit geht es darum, stärker auf die subjektive Seite derer einzugehen, die einer solchen Praxis ausgesetzt werden. Es geht darum, die ‚Wahrheit‘ dieser Praxis aus der Position derer, die davon betroffen sind, mit den Ressourcen der lacanschen Psychoanalyse und kritischen Phänomenologie nachvollziehbar zu machen. Das bleibt nicht bei einer ungefähren Schilderung. Psychoanalyse und Phänomenologie sind Theorieangebote, die es uns erlauben, subjektive Erfahrung mit den strengen Methoden der phänomenologischen Beschreibung oder, im Fall der Psychoanalyse, vor dem Hintergrund grundlegender subjektiver Strukturbildungen und Dynamiken zur Darstellung zu bringen, ohne dabei in eine objektivistische Verkennung zu rutschen. Sie erlauben es, wie Levinas in seiner kritischen Lobrede auf Husserl sagt, das Singuläre nicht ohne Struktur zu lassen.
Es ist wiederum die Ungreifbarkeit des Mediums und die Unbestimmtheit der Interpellationen, denen die Betroffenen ausgesetzt werden, die geradezu dazu drängen, einen psychoanalytischen und phänomenologischen Threorierahmen zu wählen. Denn beide haben, oft in Bezug aufeinander, ein breites Wissen um die Wirksamkeit der unbestimmten Imperative entwickelt, die in der Konstellation des Doxing gezielt eingesetzt oder produziert werden. Es geht hier aber nicht allein um eine Ausarbeitung der subjektiven Effekte der Techniken kollektiver digitaler Gewalt. Denn erst dann, wenn wir die Wirkweise dieser Techniken verstehen, können wir auch eine Einordnung der jeweiligen Form von Gewalt in unsere Typologie leisten, das heißt die Frage beantworten, inwieweit nicht nur die juristische Person, sondern auch die moralische und individuelle Person im Extrem gleichsam zerlegt werden. Das ist, wie sich zeigen wird, kein Sprung von Foucault zu einer gänzlich anderen Perspektive, sondern weitgehend die phänomenologisch und psychoanalytische informierte Ausarbeitung dessen, was er in Überwachen und Strafen und mehr noch in Sexualität und Wahriet hinsichtlich der modernen Techniken der Macht als politische Ökonomie der Körper gefasst hat.
Erst vor diesem Hintergrund einer reichen Praxistypologie soll die Besprechung einiger Fälle IT basierter kollektiver Gewalt erfolgen.
Inhaltsverzeichnis:
I. Kontext und empirische Studien
- Methode
1.1 Eigenschaftstypologie vs. Praxistypologie - Literaturübersicht
II. Ansätze zu einer praxologischen Typologie des Doxing bei Foucault und Agamben
- Überblick über Focaults Genealogie der modernen Strafpraxis in „Überwachen und Strafen“.
- Typologie moderner Straf-Wissens-Regime.
4.1 Das Regime des Verhinderungszeichens
4.2 Die Disziplin
4.3 Politische Anatomie: der zweite Körper (I) - Der politisch-rechtliche Grenzbegriff der Ausnahme
- Die Produktion des nackten Lebens. Digitale Gewalt als Technik der Trennung des Lebens von seiner Form.
6.1 Politische Anatomie: der zweite Körper (II) .
Exkurs: Race and Paranoia
III Lacan – Zizek – Santner
- Die unsinnige Appellation und das Überich
7.1. Zizek – The Sublime Object of Ideology.
7.2 Das Ding und das Rasen der Kette bis das Subjekt zerspringt.
7.3 Angst und Übertragung: Kafkas Welt als mise en scene der ideologischen Fantasie, die im Doxing zur alptraumhaften Wirklichkeit wird. - Der Schrebersche Körper – Politische Anatomie (III)
8.1 Die Psychose (Lacan, Seminar III)
8.2 Eric Santners Lektüre der „Denkwürdigkeiten“
8.3 Eric Santners Konzeption des biopolitischen Fleisches
(Exkurs: „The Regime of the Brother“ und die postödipale Gesellschaft)
IV. Levinas-Blanchot – Draußen. Zum Denken des Ausfalls der Sprache unter dem Eindruck totalitärer Gewalt.
V. Umriss einer praxologischen Typologie IT basierter kollektiver Gewalt
VI. Fallanalyse.
„Digital Violence Guide“, Friedrich Schiller University Jena, zugegriffen 25. Januar 2025, https://www.uni-jena.de/en/171512/digital-violence-guide.
{Citation} ↑
David M. Douglas, „Doxing: A Conceptual Analysis“, Ethics and Information Technology 18, Nr. 3 (1. September 2016): 199–210, https://doi.org/10.1007/s10676-016-9406-0. ↑
Michel Foucault, Überwachen und Strafen, übers. von Walter Seitter, Bd. 2271, Suhrkamp-Taschenbuch (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994), 258 f. Zur beunruhigenden Nähe des von Foucault auf die Produktion von Indvidualitäen, Spezies gehenden Operationen zu offen rassistischen Diskursen und Praktiken siehe etwa Thomas Lemke, „Die politische Ökonomie des Lebens – Biopolitik und Rassismus bei Michel Foucault und Giorgio Agamben“, o. J., http://thomaslemkeweb.de/publikationen/Die%20politische%20%D6konomie%20des%20Lebens%20II.pdf. Die indiviudalisierende, im Kern rassistische Eigenheit dieser gegenrechtlichen Prorzeduren wird in einer herausragenden lacaninaisch geprägten Arbeit von Jack Black zum Zusammenhang von rassistischem Diskurs und Paranoia deutlich: Jack Black, The psychosis of race, Psychology and the other (Abingdon, Oxon; New York: Routledge, 2024), https://doi.org/10.4324/9781003414209. ↑
Verwirklichung und Operationalisierung im Zuge einer soziotechnischen Einrichtung eines Settings einschließender Ausschließung (de Bannbeziehung) sind die Terme, die Agamben, Nancy und Blanchot anbieten, um diese Modalität des Diskurses zu fassen. Am Horizont unserer Frage steht, das zeigt diese Anmekrung an, entsprechend keine einfache Handhabe für legsilative Bemühungen, sondern die diese Werke durchziehende Befragung der Möglichkeit einer Praxis der Entwerkung, Deaktivierung oder Entoperationalisierung des Diskurses (und der techno-medialen Infrastruktur, in der wir uns „verfangen haben wie in einer ökonomisch-technischen Falle“ (Nancy, UG, S…). D.i. die Frage nach dem, was es heißt, auf eine Weise politisch zu sein und zu handeln, die nicht auf die Instrumentierung der von den Szenen der Rechten und Linken, der liberalen Spaßgesellschaft, den toxischen Technoszenen – die Manipulation der Mitmenschen unter dem Titel des social engineering für ihren narzisstischen Reputationsgewinn in der Szene als ‚Spiel‘ betreiben – und schließlich dem Staat gleichermaßen ins Werk gesetzen Apparatur hinausläuft. ↑
Briony Anderson und Mark A. Wood, „Doxxing: A Scoping Review and Typology“, hg. von Jane Bailey, Asher Flynn, und Nicola Henry, 4. Juni 2021, 205–26, https://doi.org/10.1108/978-1-83982-848-520211015. ↑
Zur fachistoiden Eigenheit dieser Form der Verfolgung deutlich Sasha Lobo 2021 https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/der-fall-drachenlord-ein-jahrelanges-martyrium-in-deutschland-und-niemand-haelt-es-auf-kolumne-a-91b94ce3-ab01-4ac1-9286-d85bea144928 ↑
Daniel Trottier, Qian Huang, und Rashid Gabdulhakov, Digital Media, Denunciation and Shaming: The Court of Public Opinion, 1. Aufl. (London: Routledge, 2024), https://doi.org/10.4324/9781003453017. ↑
Zum Doxxing im Kontext der Hackersubkultur Adrienne L. Massanari, „Rethinking Research Ethics, Power, and the Risk of Visibility in the Era of the “Alt-Right” Gaze“, Social Media + Society 4, Nr. 2 (April 2018): 2056305118768302, https://doi.org/10.1177/2056305118768302. sowie Peter Snyder u. a., „Fifteen Minutes of Unwanted Fame: Detecting and Characterizing Doxing“, in Proceedings of the 2017 Internet Measurement Conference (IMC ’17: Internet Measurement Conference, London United Kingdom: ACM, 2017), 432–44, https://doi.org/10.1145/3131365.3131385. ↑
Snyder et al., 2017 ↑
Qiqi Chen, Ko Ling Chan, und Anne Shann Yue Cheung, „Doxing Victimization and Emotional Problems among Secondary School Students in Hong Kong“, International Journal of Environmental Research and Public Health 15, Nr. 12 (27. November 2018): 2665, https://doi.org/10.3390/ijerph15122665. ↑
„Cyberbullying Linked with Suicidal Thoughts and Attempts in Young Adolescents“, National Institutes of Health (NIH), 11. Juli 2022, https://www.nih.gov/news-events/nih-research-matters/cyberbullying-linked-suicidal-thoughts-attempts-young-adolescents. Eine unvollständige Liste von Suiziden, die mit Onlinemobbing in Zusammenhang gebracht werden, findet sich samt der verlinkten Artikel hier: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_suicides_attributed_to_bullying ↑
Die Differenz von Ohnmacht und Verlassenheit wurde von Hannah Arendt im Zuge ihrer Differenzierung von tyrannischer und toalitärer Gewalt eingeführt; bei Levinas finden wir nicht nur direkte Bezugnahmen auf diesen Begriff (Schwierige Freiheit, S….), sondern auch die subjekttheoretischen Ressourcen, um diese Position phänomenologisch eindringlicher zu fassen. Eine weitere Referenz, die die Bedeutsamkeit dieses Begriffs im jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts anzeigt, ist Gershom Sholems Gebrauch des Terminus der Verbannung in Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 13. Auflage, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 330 (Berlin: Suhrkamp, 2020), 274. Auf diese Passage wiederum nehmen Maurice Blanchots Reflexionen auf die Bedingungen Schreibens in Der literarische Raum explizit Bezug und stehen sachlich im Hintergrund seiner Konzeption des Schreibens im Eingedenken der Shoa. Auch Giorgio Agambens unermüdlich wiederholte Analysen der Bannbeziehung im Ausnahmezustand schließt sachlich und terminologisch an diesen Begriff an. ↑
Massanari, „Rethinking Research Ethics, Power, and the Risk of Visibility in the Era of the “Alt-Right” Gaze“. ↑