Fruehjahr Sommer 2018 #1

Kategorien: Fiction, story

Mit der willkürlichen Verhaftung fängt es an. Doch was genau fängt damit an? Du hast davon gesprochen: von dem Zusammenbruch der Realität, dem Mangel an Wirklichkeit, diesem Unglauben, dass das passiert. Es dauert lang, bis man realisiert, dass das keinen Ausgang hat.

Die Verhaftung findet schrittweise statt. Sie beginnt nicht eines Morgens, sondern weitet sich aus. Zug um Zug bis zu dem Punkt, wo in Überschlagung der Ereignisse die ontologische Katastrophe geschieht. Die vollständige Absorbtion in den paranoiden Raum der unsinnigen Geltung, in das Gemurmel, die Stimmen, die Diskurse, das Gelächter, den Applaus, in alles, was als ebenso vielstimmiger wie unverständlicher Imperativ umgibt. Mit der willkürlichen Verhaftung, dem ersten Schritt, wie du sagst, in der schrittweisen Desintegration der Person, beginnt genau das: Es kommt zur Auflösung der Konsistenz der materiellen Welt. Die Umgebung wird unwirklich, das Sinnliche wird fremd und bedrohlich. Kein Geräusch bleibt davon unberührt. Es beginnt zu dröhnen, das Dröhnen überlagert jedes Geräusch. An jede zufällige Stimme, die ins Zimmer dringt oder zufällig passiert auf der Straße, hängt sich der automatisch arbeitende Diskurs, die Stimmen, das Gemurmel. Alles, was sonst bloß beiläufiger Unsinn war, wird zum unsinnig geltenden Signifikanten, an den sich die ganze Kette des Wissens hängt, die unentwegt arbeitet, um zu verstehen, was hier vor sich geht, warum das geschieht, um zu erfahren, was zu tun ist, um das zu beenden. Man ruft nach Freunden und Bekannten, man ruft um Hilfe, sucht irgendeinen Haltepunkt. Doch entweder wissen sie nicht oder sie machen aus unerfindlichen Gründen mit. Das lässt sich nicht mehr entscheiden, es gibt zu dieser Form der Einschließung kein erkennbares Außen. Sie wird zeitlich, räumlich, menschlich für den, der eingeschlossen wird, zur unentrinnbaren Totalität.

Ohne Ausweg, solange die Rede, die Anerkennung, dass das passiert, verweigert bleibt. Die Hoffnung auf das Wort, das nicht mehr zugänglich ist, wird das wirksamste Zwangsmittel. Die Hoffnung wieder an der Ordnung menschlicher Rede teilhaben zu können, um schließlich wieder etwas anderes denken zu können, als das, was sich infolge der terrorisierenden Frage, was zu tun sei, um das zu beenden, von selbst unentwegt denkt, zieht immer weiter hinein in das Spiel.

Das Gefängnis, das nur für mich gedacht war, musste in seiner Unentrinnbarkeit erst errichtet werden. Schon kurz nach meiner Ankunft in A. stand ich unter dem Blick, von dem ich  zunächst nur beiläufig Notiz nahm. Gelegentlich bemerkbares Gemurmel, Menschen, die einen irgendwie schon kannten und kleinere Begebenheiten wie die am Tag des Inkrafttretens des neuen Polizeiaufgabengesetzes als auf dem Weg zur Arbeit nach M., beim Aussteigen aus dem Zug, mich zwei Polizisten aus der Masse der zur Arbeit strömenden Menschen gezielt herausgriffen. Mich aufhielten, um meine Taschen zu kontrollieren. Doch zu der Zeit schien es noch als seien die Wege trotz aller Widrigkeiten noch offen und nicht nur Durchsichten in einem System unentrinnbarer Sichtbarkeiten, jeder Ort nur Bühne in einem Netz hierarchisierter, miteinander kommunizierender Blicke – die Welt wurde unzweideutig erst im Frühjahr 2018 zum Panoptikum.